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Computerwerkstatt Presse

Was hinter dem nächsten Klick lauert 11/7/09

Projekt – Im Pliezhäuser Otwin-Brucker-Schulzentrum sollen Schüler für Gefahren des Internets sensibilisiert werden

VON ARNFRIED LENSCHOW

PLIEZHAUSEN. Lieber einen Freund verlieren als sein Handy. Lieber sich in virtuellen Welten bewegen als in der realen. Denn: Der nächste Kick ist immer nur einen Klick entfernt. Die virtuelle Welt legt mit Macht ihre Netze aus. Die sich darin fangen, dort ein scheinbares Zuhause finden, werden dadurch immer unbehauster in der realen Welt. Im Internet treffen sie auch auf Gefahren, die sie nicht einschätzen können.

 

In der schönen neuen Welt von Computer und Internet gibt es auch Gefahren für Kinder und Jugendliche. FOTO: STEINHAUER

Wenn der Strom der Möglichkeiten zu groß wird, reißt er gerade Kinder und Jugendliche mit. Vor allem in einem Alter, in dem sich die Realität für sie sowieso fremd anfühlt. Wenn in der Pubertät die Hormone verrückt spielen, brennen sich die Bilder dieser zweiten Realität besonders ein, formen Gefühle und Vorstellungen. Eine künstliche Welt, in der die Extreme sich munter tummeln. Cybermobbing, Gewaltdarstellungen, Pornografie – all das lauert im Netz. Jugendliche sind Opfer, Jugendliche sind Täter. Der Umgang mit dem Netz kann überfordern und ist zu selten Unterrichtsstoff.

Im Otwin-Brucker-Schulzentrum in Pliezhausen will man dies ändern – und man hat es auch schon getan. Nicht, weil dort besonders Negatives passiert wäre. »Wir haben vielleicht einfach genauer hingeguckt als andere Schulen«, sagt Ralf Schmidmeir, der Schulsozialpädagoge.

Begleiter in die virtuelle Welt

Aus diesem genauen Hinschauen ist in diesem Jahr ein Projekt Neue Medien geworden, das Respekt in der realen und in der virtuellen Welt vermitteln will, in vier Klassen der Hauptschule und in einer Realschulklasse, alles Jahrgangsstufe sieben. Ein Projekt, bei dem aber auch Lehrer und Eltern ins Boot geholt wurden. Erwachsene sind im Vergleich zu Kindern häufig die medialen Fast-Analphabeten. Abgehängt von einer Welt, in der sich ihr Nachwuchs mit Selbstverständlichkeit bewegt.

»In die Disco würden die Eltern ihre Kinder begleiten, aber nicht in die virtuelle Welt«, benennt Steinmeir ein Grundproblem. Die ersten beiden Bausteine des Schulprojekts hatten daher die Erwachsenen als Zielgruppe. Erst gab es eine Fortbildung für die Lehrer über die »Generation sorglos« und ihre Selbstinszenierung im web 2.0. Dann wurde das Projekt auf einem Elternabend vorgestellt, an dem Eltern deutlich gemacht wurde, was mit ihren Kindern passieren kann. Um sie in die Verantwortung zu nehmen, zum Nachfragen zu ermuntern, damit sie steuern können. Und dazu, die Hilflosigkeit in Bezug auf den medialen Umgang zu überwinden.

Es geht dabei keineswegs darum, das Internet zu verteufeln. »Wir wollen nicht den Stecker ziehen«, sagt Steinmeir. Es geht nicht ums Verteufeln, sondern um angemessenes Verhalten im Netz. Wie verhalte ich mich in Chat-Räumen? Was mache ich, wenn mir jemand blöd kommt? Wie schütze ich mich? Wie werde ich nicht selbst zum Täter?

Das alles sind Fragen, die den Schülern nahegebracht werden sollen im dritten Baustein des Projekts. Einen Vormittag lang wird dieses Thema in einem Workshop durchgeackert, mit Experten von außerhalb, die auch vom Alter und daher auch von den Erfahrungen den Schülern näher sind. Mitarbeiterinnen des Jugendmedien-Cafés in Tübingen machen das mit den Mädchen. Um die Jungen kümmert sich die Kulturwerkstatt Reutlingen.

Beim letzten Baustein an zwei Vormittagen heißt das Thema »Liebe, Sexualität und der Umgang miteinander«. Die Tübinger Initiative für Mädchenarbeit (Tima) und die »Pfunzkerle« aus Tübingen steuern Mitarbeiter und Wissen bei, um sich mit den Jugendlichen auch per Rollenspiel Fragen zu nähern wie »Was wünschen sich Mädchen oder Jungen vom anderen Geschlecht – oder vom eigenen? Wie lernt man, Stopp zu sagen, Grenzen zu ziehen? Wie kann man positiv in Kontakt zu anderen treten?« Da hat Beratungslehrerin Hella Musall Defizite ausgemacht. Die Schüler erlebten zwar Hardcore-Extremformen, aber »wissen nicht, wie sie sich menschlich näherkommen«.

Eigene Tutoren ausbilden

Das Projekt, das bis November läuft, wird weitergehen. Getreu dem Motto, dass Lehrende am meisten lernen, sollen aus Projekt-Absolventen neue Tutoren gewonnen werden, die bei der Wiederholung des Projekts ihren Mitschülern zur Seite stehen. Ein Schneeballeffekt, da das Thema aktuell bleibt und auch weiter Schüler und Lehrer beschäftigen wird. »Im weitesten Sinne ist das auch Demokratie-Erziehung«, sagt Hella Musall. Denn »es geht darum, Kinder stark zu machen. Damit sie wissen, was da läuft.« (GEA)

Originalartikel erschienen am 11.07.2009 im Reutlinger Generalanzeiger